Es dürfte deutlich geworden sein, dass die Positionen von Reich insbesondere moralisch polarisierten, das macht sie zudem anfällig für jede Art von religiöser Exegese. Reichs Moralismus steht in der Tradition der eines Jean J. Rousseau, ist Kind aufklärerischer und humanistischer Tradition.
In seinem Spätwerk überschritt Reich die Grenzen der westlichen
Kultur, versuchte zu versöhnen, was nicht zu versöhnen ist: Naturwissenschaft
und Metaphysik. Es misslang. Es misslang, obwohl er mehr als mancher andere
bemüht war, die Metaphysik, das Numinose der Lebensenergie, in die Sprache der
Wissenschaft zu übersetzen.
Reich scheiterte letztlich an dem Versuch, Fragen
esoterischen Wissens und des Wissens aus den Randbereichen der Naturerkenntnis
mit den herrschenden Naturwissenschaften zu versöhnen.
Auch in seinen gesellschaftswissenschaftlichen Beiträgen
findet sich dieser Moralismus wieder: In seiner »Rede an den kleinen Mann« und
»Menschen im Staat« z. B. durchschaut Reich scharfsinnig die historischen
Konsequenzen des einfachen Freund-Feind-Schemas in Politik und Gesellschaft.
Leidenschaftlich klagt er den »kleinen Mann« an, die Verantwortung stets von
sich selbst weg auf seine Führer, auf seine Organisationen, auf den Staat
geschoben zu haben.
Reich übersieht dabei geflissentlich, wo er selbst in seinen
Theorien dieser Versuchung unterliegt, den Einzelnen freizusprechen von der
Verantwortung für sein Leben. Reichs soziologische Fragestellung, wie sich das
»Gesellschaftliche« über die Formung der Sexualität im Individuum verankert und
auf die Gesellschaft zurückwirkt, ist durchaus plausibel und hat empirisch bis
heute vielfache Bestätigung erhalten. Der religiöse Fundamentalismus bietet reichlich Anschauungsmaterial
für seine Thesen von der Wechselbeziehung zwischen sexueller und sozialer
Repression, die 1933 in seinem Buch »Massenpsychologie des
Faschismus« zum ersten Mal überzeugend dargelegt wurden.
Nur, Reichs Monokausalismus, sein sexueller Determinismus
greift ebenso zu kurz wie Freuds psychofatalistische Variante vom Unbehagen der
Kultur, wenn es um die Komplexität der Wechselwirkungen zwischen Individuum und
Gesellschaft geht. Mag es ihm selbst und seiner Generation auch anders
erschienen sein, der Mensch wird in seinem Sein, in seinem Tun und Denken von
ein paar Faktoren mehr beeinflusst als nur durch die Unterdrückung seiner sexuellen
Triebe.
(Fortsetzung folgt)
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