Also alles nur Bluff? Hirngespinste eines Größenwahnsinnigen?
Damit würden wir es uns zu einfach machen. Speziell für Reich gilt, dass er auf
vielen Hochzeiten tanzte. Damit war er eben das genaue Gegenteil eines
fachspezifischen Forschers, die es damals schon zuhauf gab.
Als Grundlagenforscher sah sich Reich in der Lage,
interdisziplinäre und systemische Fragestellungen zu formulieren, die in der
herrschenden Tradition einer spezialisierten Wissenschaft nicht gestellt
werden. Indem er die Lebensenergie „Orgon“ als die Wirkkraft des
Naturgeschehens konstatiert, richtet sich sein Blickfeld auf die Ganzheit des
Lebens.
In ihr glaubt er den Schlüssel zu Phänomenen gefunden zu
haben, die der menschlichen Handhabung und Nutzbarmachung verschlossen sind,
z.B. zur Biogenese (Frage nach Entwicklungsgesetzen des Lebens), zur
Körper-Seele-Beziehung (Wie wirkt das Körperliche auf das Seelenleben und
umgekehrt?), die Klima- und Wetterbildung (Was sind ihre bioenergetischen
Wirkgesetze?).
Die Spuren Reichs auf vielerlei Gebieten der Wissenschaft
lassen sich nicht verleugnen: Reichs „Charakteranalyse“ hat das Handwerkszeug
der Psychoanalyse erweitert und ihre Entwicklung zur „Ich-Psychologie“ geprägt.
Reich brachte Körper und Hände in die Psychotherapie,
durchbrach die heilige Abstinenzregel Freuds („Anfassen verboten!“), indem
seine Patienten berührte und ihre Muskelrigiditäten direkt bearbeitete, um die
dort festgehaltenen und unterdrückten Affekte zu befreien. Diese von ihm
»Vegetotherapie« genannte körpertherapeutische Herangehensweise wurde die
Urform der modernen Körperpsychotherapie, die heute in psychotherapeutischen
Fachkreisen immer mehr Interesse erlangt.
Reichs Ideen zur Neurosenprophylaxe haben Einfluss genommen
auf Entwicklungen, die Jahrzehnte später die Hinwendung zu Methoden einer
„sanften Geburt“ (F. Leboyer, M. Odent) beeinflussten, aber auch zu
Erziehungsmodellen kindlicher Selbstregulierung, wie sie von Alexander S. Neill
propagiert wurden.
Reichs psychosomatisches Verständnis der Krebserkrankung –
er betrachtet Krebs als bioenergetische und emotionale Resignation des
Organismus und den Tumor als das Endstadium dieser Entwicklung – und sein
Modell einer Psychosomatik war pionierhaft und stellt einen faszinierenden
Prototyp dessen vor, was heute als „ganzheitliche Medizin“ gehandelt wird.
Das von ihm entdeckte und erforschte »Orgon« inspiriert seit
neuestem eine wachsende Zahl von alternativen Wissenschaftlern für weitere
Forschungen und ist auf dem besten Weg, als Terminus in den allgemeinen
Sprachgebrauch einzugehen.
(Fortsetzung folgt)
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