Gesundheit und Krankheit Provokant, sowohl für das Individuum als auch für die gesamte Kultur, mag eine Prämisse sein, die sein Werk durchzieht: Die Gesellschaft als Ganzes ist der pathogene Faktor, die „Massenneurose“ der Menschen die Regel. Und wer will schon gerne als „seelisch krank“ abgestempelt werden? Bezeichnend für Reich war seine ständige Suche nach einer exakten Definition dessen, was »gesund« oder »natürlich« bedeutet:
- In seiner Orgasmuslehre suchte er nach eine genauen qualitativen Definition der orgastischen Erlebens und fand die »Orgasmusformel«.
- In seiner psychotherapeutischen Praxis fahndete er nach dem objektiven Kriterium für körperliche und seelische Gesundheit und fand den sog. „Orgasmusreflex“.
- In seinem sozialpolitischen Engagement suchte er das soziale Idealmodell, fand sie im Kommunismus der Marxisten, später in seinem Modell der „Arbeitsdemokratie“.
- In seiner Suche nach dem Gesunden und Reinen im Menschen wandte er sich am Ende den Neugeborenen zu und fand in ihrem »unverdorbene Protoplasma« die Hoffnung auf Zukunft.
Nun sind diese Felder geradezu prädestiniert für Normen und Normierungen, es sind ja in der Tat Gebiete, auf denen unsere Kultur in Erziehung und Bildung unübersehbare Defizite bewirkt. Unsicherheit, Kränkbarkeit und vielfältige Probleme sind hier die Regel. Fragen, die nicht gestellt werden, Antworten, nach denen sich Menschen sehnen. Reich gab seine Antworten mit frappanter Sicherheit, charismatisch, überzeugend und nachdrücklich. Das machte ihn anziehend und abstoßend zugleich.
Die Anziehung führte zu einer fast kultischen Verehrung durch seine Schüler und Nachfolger, die Abstoßung in einer verächtlichen Pathologisierung von Reichs Person (er galt bereits in den 30er Jahren als schizophrener Psychotiker) und vor allem zu Berührungsblockaden mit seinen Thesen, die bis heute andauern.
(Fortsetzung folgt)
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